Artikel 6 Staatsgrundgesetz (StGG) wird von Juristen, auch in den Urteilen des OGH, als Rechtfertigung für Zugangsbeschränkungen in Berufsgruppen angesehen. Tatsächlich erfüllt Art. 6 die Funktion eines „Gummiparagraphen“, mit dem die in Artikel 18 StGG garantierte Berufsfreiheit scheinbar willkürlich eingeschränkt werden darf. Dabei lässt sich Artikel 6 StGG mit Artikel 18 StGG problemlos in Einklang bringen – aber nicht im Falle der Fotografie! Vorausgesetzt wird die unvoreingenommene, rationale Bewertung des Verfassungstextes:
„Artikel 6 StGG:
Jeder Staatsbürger kann an jedem Orte des Staatsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz nehmen, Liegenschaften jeder Art erwerben und über dieselben frei verfügen, sowie unter den gesetzlichen Bedingungen jeden Erwerbszweig ausüben. Für die tote Hand sind Beschränkungen des Rechtes, Liegenschaften zu erwerben und über sie zu verfügen, im Wege des Gesetzes aus Gründen des öffentlichen Wohles zulässig.“
Art. 6 regelt also gleich mehrere Belange in einem Aufwaschen. Die Klausel „unter den gesetzlichen Bedingungen“ kann dabei am ehesten im Sinne von flankierenden Maßnahmen des Gesetzgebers zur Sicherung der qualitätsvollen Berufsausübung interpretiert werden, ganz im Sinne des modernen Konsumenten- und Arbeitnehmerschutzes. Zugangsbeschränkungen werden durch die Formulierung „Jeder Staatsbürger kann…“ jedoch grundsätzlich eher ausgeschlossen denn vorgesehen (siehe Anmerkung).
Dem steht Artikel 18 des StGG gegenüber, der sehr einfach zu interpretieren ist:
„Artikel 18 StGG:
Es steht jedermann frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will.“
Diese klare Formulierung kann nun nicht grundlos unter Berufung auf Artikel 6 StGG abgeschwächt werden, die freie Berufs- und Ausbildungswahl steht grundsätzlich jedem Bürger zu! Ausgenommen wären allfällige Beschränkungen im Interesse der Sicherheit oder des Allgemeinwohls. Zugangsbeschränkungen in dem Berufsstand der Fotografen wurden aber nicht zum Allgemeinwohl errichtet, sondern zum Wohle weniger Privilegierter, und sind daher nicht verfassungskonform!
Die Formulierung „…unter den gesetzlichen Bedingungen“ in Artikel 6 StGG ist eine Rahmenkonstruktion, die weiter gehende gesetzliche Regelungen für Berufe grundsätzlich zulässt, ohne anzudeuten, wie diese konkret aussehen könnten (Arbeitsrecht, Kündigungsschutz, u.dgl.). Voraussetzung jeder sich derart herleitenden gesetzlichen Regelung muss es stets sein, dass sie verhältnismäßig ist, und auch dem Rest der Verfassung entspricht, hier insbesondere Artikel 18 StGG. Kein Gesetzestext, der dem übrigen Staatsgrundgesetz nicht entspricht, könnte ohne hinreichenden Grund also durch Artikel 6 StGG legitimiert werden, besonders kein wie auch immer gearteter Gesetzestext, der ungerechtfertigt die Berufsfreiheit einschränkt oder Zugangshindernisse errichtet (vgl. auch: „Europarecht„).
Bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Zugangsbeschränkungen, die sich auf Artikel 6 StGG gründen, kommt es wesentlich auf die Verhältnismäßigkeit an:
Wenn die Zugangsvorschriften für Ärzte, Rechtsanwälte, Kfz-Mechaniker oder Sprengmeister reglementiert sind, und z.B. eine Meisterprüfung vorausgesetzt wird, ist das verhältnismäßig gerechtfertigt, da der Schutz der Gesundheit von Kunden oder Mitarbeitern, wie auch die Sicherung beträchtlicher Vermögenswerte, im Interesse der Allgemeinheit steht. Die allgemeine Berufsfreiheit hat berechtigt hinter diesem Interesse zurückzustehen.
Wenn für die Berufsfotografie Zugangsbeschränkungen in Kraft sind, während die Mehrheit vergleichbarer Gewerbe frei ausgeübt werden kann, und keine wichtigen Allgemeininteresen geltend gemacht werden können (die Unwiederholbarkeit einer Hochzeit stellt kein Allgemeininteresse dar), ist die jedem Bürger zustehende Berufsfreiheit verhältnismäßig höher zu bewerten, und die Zugangsbeschränkungen sind abzuschaffen.
Anmerkung: Eine jährliche Überprüfung der Sehkraft von Fotografen, eine Qualitätskontrolle der für Kunden angefertigten Fotos, eine regelmäßige Inspektion der verwendeten technischen Ausrüstung – dies würde Artikel 6 StGG grundsätzlich entsprechen, falls es denn überhaupt sinnhaft wäre. Eine reine „Selbstkontrolle“ der Fotografen durch ihre Innung könnte dabei nicht als ausreichend erachtet werden, die Kontrolle hätte durch unabhängige Instanzen zu erfolgen. Zugangsbeschränkungen zu errichten, und hernach den Fotografen keine konkreten und ebenso strengen gesetzlichen, speziell auf die Fotografie zugeschnittenen Rahmenbedingungen für ihre Arbeit verpflichtend vorzuschreiben, ist ein Beweis für die von vornherein fehlende Notwendigkeit der Zugangsbeschränkungen für Berufsfotografen.